Nach Verkehrsunfällen sind häufig nicht genügend physikalische Anknüpfungspunkte vorhanden, um die Unfallentwicklung umfassend zu rekonstruieren. Des ist man häufig bei der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen auf Zeugenaussagen angewiesen, um bestimmte Phasen der Unfallentwicklung zu rekonstruieren. Auch dann, wenn Zeugen Aussagen zu Unfallabläufen mit dem ehrlichen Bemühen um Objektivität abgeben, ist bei der Übernahme bestimmter, hieraus abgeleiteter physikalischer Eckdaten größte Vorsicht geboten. Wie die tägliche Praxis mit Zeugenbefragungen nach Verkehrsunfällen nämlich zeigt, ist die Beobachtungsfähigkeit von Zeugen und insbesondere von Unfallbeteiligten nur sehr gering. Beobachtungslücken werden von Zeugen häufig dadurch geschlossen, dass im nachhinein aus der Endsituation Schlussfolgerungen über den Hergang gezogen werden. Dies ist dem Zeugen dann nach längeren Zeiträumen überhaupt nicht bewusst. Dabei verschwimmen tatsächliche Wahrnehmungen mit Schlussfolgerungen zu einem Gesamtbild und der Beobachter ist überzeugt, das geschilderte Geschehen tatsächlich erlebt zu haben. Nach neueren psychologischen Untersuchungen aus den USA interpretiert das menschliche Gedächtnis Geschehensabläufe in einem viel größeren Maße als es Fakten wiedergibt (Korte). Es funktioniert gerade nicht wie ein Videorekorder, der auf Knopfdruck brav abspielt, was es einmal aufgezeichnet hat. Vielmehr schreibt unser Gedächtnis Erinnerungen ständig um, es streicht, fügt hinzu und versieht, aus dem Blickwinkel der Gegenwart längst vergangene Szenen mit neuer Bedeutung. Von diesem Verhalten bleiben auch Zeugenschilderungen nach Verkehrsunfällen nicht verschont. In der forensischen Praxis stellt man häufig bei dem Vergleich der Protokolle eines Zeugen zu verschiedenen Zeitpunkten fest, dass völlig unterschiedliche Darstellungen abgegeben werden. Oftmals sind die ersten Aussagen bei der Polizei und in Strafverfahren viel weniger detailliert oder nur bruchstückhaft, während Jahre später in sich schlüssige, sehr präzise Schilderungen des gesamten Ablaufs abgegeben werden. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass die Geschichte des Unfalls in der Zwischenzeit im Gehirn neu geschrieben wurde. Besonders eindrucksvoll zeigen sich die geschilderten Phänomene bei Verkehrsunfällen, die von vielen hautnah beobachtet wurden. Die nachträgliche, getrennte Befragung führt dann häufig zu grundverschiedenen Schilderungen des tatsächlichen Geschehens.
Bei Berücksichtigung dieser einschränkenden Ausführungen ist es aber durchaus möglich, Schilderungen Beteiligter und Zeugen entsprechend zu sichten. Hier sollte man den Aussagewert noch nach der zeitlichen Dauer der Vorgänge beurteilen: Langfristige Manöver (z.B. das eigene Fahrziel), die eigene Fahrgeschwindigkeit auf einer Landstraße) werden sicherlich besser erinnert als sehr schnell verlaufende Ereignisse.
Grundsätzlich müssen aber in Gutachten alle Schlussfolgerungen, die auf Zeugenaussagen basieren, als solche kenntlich gemacht werden. Im Zivilverfahren ist es auch zulässig, einen Parteivortrag, der von einer anderen Partei nicht bestritten ist, für die Rekonstruktion zugrunde zulegen. Aber auch dies sollte in Gutachten kenntlich gemacht werden.