Um die Entwicklung eines Verkehrsunfalls beurteilen und Fragen zur Vermeidbarkeit beantworten zu können, muß man sich über den Ablauf des Unfalls im klaren sein. Bei einer typischen Vorfahrtsverletzung stellen sich dabei folgende entscheidene Fragen:
- Wie weit war der Bevorrechtigte entfernt, als die Vorfahrtsverletzung erkennbar war?
- Welche Zeit verging noch bis zum Aufprall?
- Wie weit war der Bevorrechtigte entfernt, als der Vorfahrtsverletzende sich dazu entschlossen hatte, in die bevorrechtigte Fahrbahn einzufahren?
- Welche Zeit verging ab diesem Augenblick bis zum Unfall?
- Wo hätte sich der Vorfahrtsverletzende befunden, wenn bei pflichtmäßigem Verhalten des Bevorrechtigten zwar keine räumliche Vermeidbarkeit, jedoch eine spätere Ankunft an der Unfallstelle vorgelegen hätte?
- Um welche Zeitspanne später wäre er an der Unfallstelle eingetroffen?
Bei diesen Fragestellungen spielt sowohl die Entfernung – also der Weg, als auch die Zeit eine Rolle. Im Gutachten spricht man von den Weg-Zeit-Zusammenhängen. Sie lassen sich sowohl in Zahlen darstellen, als auch in Form eines Diagramms, dem Weg-Zeit-Diagramm. Für den Laien zunächst einfacher zu verstehen ist eine Angabe in Zahlenwerten, beispielsweise in der Form: „Der Bevorrechtigte reagierte 1,35 s vor der Kollision in einer Entfernung von 32,5 m zum Kollisionsort.“ Da aber sämtliche Rekonstruktionsergebnisse toleranzbehaftet sind, und verschiedene Alternativen untersucht werden müssen, wird eine rein zahlenmäßige Darstellung sehr schnell unübersichtlich und hat zudem nach Nachteil, daß nur bestimmte Eckpunkte der Unfallentwicklung herausgegriffen werden können. In der Praxis hat sich deshalb die Darstellung in Diagrammform bewährt. Sie setzt allerdings voraus, daß der Leser des Gutachtens dieses Diagramm interpretieren kann. Hierzu muß er den grundsätzlichen Aufbau verstehen, was, wie die Praxis zeigt, häufig aber nicht der Fall ist.
Um hier Hilfestellung zu leisten, wird im folgenden zunächst ausführlich erklärt, was unter einem Weg-Zeit-Diagramm zu verstehen ist und wie die dort eingezeichneten Linien zu interpretieren sind. Bei diesen Erklärungen werden keine mathematischen Grundkenntnisse vorausgesetzt. Ziel ist es, dem interessierten technischen Laien das Lesen und Interpretieren dieses bei der gewissenhaften Lektüre einer Unfallanalyse unverzichtbaren Diagramms zu ermöglichen. In vielen Fällen werden wichtige Zusammenhänge in Gutachten von Juristen oder den Verfahrensbeteiligten selbst nicht erkannt, weil sie nur aus dem Weg-Zeit-Diagramm ersichtlich sind.
Ein Weg-Zeit-Diagramm für eine Unfallanalyse kann anschaulich als der Fahrplan des Unfalls bezeichnet werden. Ein Körper, der sich in Bewegung befindet, benötigt zur Bewältigung einer bestimmten Wegstrecke eine bestimmte Zeitspanne. Das Bewegungsverhalten wird mit der Einheit Geschwindigkeit in km/h (gebräuchlich im Straßenverkehr) oder der Einheit m/s (gebräuchlich für Weg-Zeit-Betrachtungen) angeben. Wie schon im Themenbereich Geschwindigkeit dargelegt, liegt der Umrechnungsfaktor bei 3,6, so entspricht eine Geschwindigkeit von 36 km/h genau einer Wegstrecke von 10 m, die in einer Sekunde zurückgelegt wird.
Berechnungsvorgänge in der Einheit km/h werden im täglichen Leben ständig durchgeführt. So weiß man, daß ein Autofahrer für eine Autobahnfahrt über eine Strecke von 400 km mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 80 km/h eine Zeit von 5 Stunden benötigt; liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit mit 160 km/h doppelt zu hoch, werden noch 2,5 Stunden für die gleiche Entfernung benötigt. Ähnliche Überlegungen lassen sich für einen Fußgänger anstellen, der die Fahrbahn überquert. Aus Versuchsmessungen ist bekannt, daß ein Erwachsener beim Laufen etwa 11 km/h, dies entspricht 3 m/s erreicht. Demzufolge benötigt er beim Überqueren der Fahrbahn für eine Entfernung von 6 m etwa 2 s. Beim normalen Gehen erreicht er nur die halbe Geschwindigkeit und benötigt deshalb die doppelte Zeit.
Man kann nun derartige Bewegungen, die sich aus den Grundeinheiten Weg und Zeit zusammensetzten, grafisch anschaulich in einem Diagramm erfassen, in dem der Weg horizontal und die Zeit vertikal aufgetragen sind. Üblicherweise wird dabei der Weg in der Einheit „Meter“ und die Zeit in der Einheit „Sekunden“ angegeben. Die Abbildung zeigt den grundsätzlichen Aufbau eines derartigen Diagramms.
[Bild steht zur Zeit nicht zur Verfügung]
Im folgenden Beispiel mit der unten stehenden Abb. wird in dieses Diagramm der Bewegungsvorgang eines Pkw mit einer gleichförmigen Geschwindigkeit von 50 km/h über eine Sekunde, das entspricht 13.9 m/s mit einer sich anschleißenden Bremsung eingetragen.Um einen direkten Bezug zur Zeichnung herzustellen, wird das Diagramm im gleichen Maßstab unterhalb der Zeichnung eingetragen und die jeweiligen Fahrzeugpositionen nach einem Zeitintervall von 1 s, 2 s und 3 s sind sowohl im Diagramm als auch in der Zeichnung angegeben.
Der Koordinatenursprung, also der Nullpunkt des Diagramms liegt in der äußeren linken Fahrposition auf dieser Zeichnung. Da in einer Sekunde 13.9 m zurückgelegt werden, liegt die entsprechende Position nach einer Sekunde Fahrzeit unmittelbar fest. Die Bewegungslinie, die sich für diesen ersten Teil des Vorgang ergibt, ist eine schräg nach unten gerichtete Gerade. Eine deratige Linie wird im Diagramm als Fahrlinie des Pkw bezeichnet. Aus dem Bezug mit der Zeichnung erkennt man, daß sich die eingetragene Fahrlinie auf die Front des Pkw bezieht. Sie könnte aber auch auf jeden anderen Punkt am Fahrzeug ausgerichtet sein.
[Bild steht zur Zeit nicht zur Verfügung]
Fährt ein Fahrzeug mit gleichbleibender Geschwindigkeit, ergibt sich im Weg-Zeit-Diagramm eine schräg verlaufende Gerade. Je steiler diese Gerade zur Waagerechten ausgerichtet ist, umso geringer ist die Geschwindigkeit. Steht ein Fahrzeug, dann verläuft die Gerade exakt senkrecht. Bei Unfällen ist aber nur für die Annäherungsphase von etwa gleichbleibenden Geschwindigkeiten auszugehen. Nach dem Erkennen der Gefahr wird ein Fahrzeug abgebremst, dabei verringert sich die Geschwindigkeit während des Bremsvorgangs in Abhängigkeit von der eingesteuerten Verzögerung. Ein Beispiel für eine derartige, zunächst konstante und dann verzögerte Fahrzeugbewegung ergibt sich aus dem weiteren Verlauf der Abbildung.
Um nur die grundsätzlichen Zusammenhänge zu veranschaulichen, wurde ein Abbremsvorgang vor einer von grün auf rot wechselnden Lichtzeichenanlage unterstellt, bei dem der Pkw mit Hilfe eines stärkeren Abbremsvorgangs gerade vor der Lichtzeichenanlage anhalten kann. Er nähert sich zunächst mit einer konstanten Geschwindigkeit von 50 km/h; die Ampel wechselt zum Zeitpunkt t = 0 und s = 0 von grün auf gelb. Nach einer Reaktionsdauer von 1 s, in der 13,9 m zurückgelegt werden, reagiert der Kraftfahrer auf diesen Wechsel mittels einer dosierten Abbremsung mit einer mittleren Verzögerung von knapp 3,5 m/s2. Dabei kommt er genau vor der Lichtzeichenanlage zum Stillstand. Die Bremsdauer liegt bei 4 s und der innerhalb der Bremsstrecke noch zurückgelegte Weg bei rund 28 m. In der Zeichnung sind die bei diesem Vorgang jeweils in 1 s zurückgelegten Wegstrecken eingetragen. Der Vergleich dieser Entfernungen untereinander zeigt, daß während des Bremsvorgangs in jeder Sekunde immer weniger Weg zurückgelegt wird, da die Geschwindigkeit während des Bremsvorgangs immer geringer wird (1. Sekunde: 12,55 m; 2. Sekunde: 8,60 m; 3. Sekunde: 5,10 m; 4. Sekunde: 1,6 m). Man erhält einen parabelförmigen Verlauf der Fahrlinie, je stärker die Krümmung, desto stärker die Abbremsung des Fahrzeuges.Der gesamte Reaktions- und Bremsvorgang ist nach exakt 5 s abgeschlossen; das Fahrzeug hat die Stillstandsposition direkt vor der Lichtzeichenanlage erreicht. Bei dem sich anschließenden Wartevorgang verläuft die Bewegungslinie senkrecht.
In der nächsten Abb. ist hierauf aufbauend der sich nach der Freigabe der Lichtzeichenanlage durch Grünlicht anschließende Anfahrvorgang dargestellt. Bezogen auf den weiter oben angegebenen Nullpunkt (Gelbwechsel) soll die Lichtzeichenanlage bei Sekunde 21 auf grün wechseln und der Pkw gleichzeitig mit der Grünfreigabe auch wieder beschleunigt anfahren. Bei einer konstanten Beschleunigung werden hierbei in jeder Sekunde immer größere Entfernungen zurückgelegt. Bei einem Anfahr- oder Beschleunigungsvorgang liegt also ebenfalls ein parabelförmiger Verlauf vor, wobei die Parabel genau umgedreht verläuft. Anschaulich kann gesagt werden, daß bei einer Verzögerung bis zum Stillstand die Parabel in einer Senkrechten endet, während sie bei einem Beschleunigungsvorgang aus dem Stand aus einer Senkrechten kommt und mit wachsender Geschwindigkeit immer mehr in Richtung der Waagerechten verläuft.
[Bild steht z.Z. nicht zur Verfügung]
Eine Übersicht der grundsätzlich möglichen Fahrvorgänge ist in der weiteren Abb. dargestellt. Hieraus wird deutlich, daß sich stärkere Verzögerungen und Beschleunigungen Beschleunigungen auf die Krümmung der Bewegungslinie auswirken. Bremst man, wie in dem Beispiel dargestellt, aus einer Geschwindigkeit von 40 km/h bis zum Stillstand ab, wird bei einer stärkeren Verzögerung eine geringere Zeit und auch ein geringerer Weg bis zum Erreichen der Stillstandsposition benötigt. Das gleiche gilt auch für eine beschleunigte Bewegung. Je stärker die Beschleunigung, desto geringer ist die Wegstrecke und die Zeitspanne, die bis zum Erreichen einer bestimmten Geschwindigkeit benötigt wird.
[Bild steht z.Z. nicht zur Verfügung]
[Bild steht z.Z. nicht zur Verfügung]