↑ Zurück zu Bremsen

Expo-Ansatz

Bei Bremsvorgängen von Motorrädern hängt das Verzögerungsniveau stark vom Fahrer ab. Anders als beim Pkw können beim Zweirad Vorderrad- und Hinterradbremskreis mit Hand- und Fußbremse getrennt angesteuert werden. Darüber hinaus besteht für Zweiradfahrer das Problem, dass eine Überbremsung der Räder, d.h. ein Übergang der Räder in den Blockierzustand, nach Möglichkeit verhindert werden muss, da dies generell eine Sturzgefahr beinhaltet. Dabei ist ein Blockieren des Hinterrades in der Regel der unkritischere Zustand, da das Zweirad dann notfalls noch mittels Gewichtsverlagerungen des Fahrers im Gleichgewicht gehalten werden kann.

Erst der Übergang des Vorderrades in den Blockierzustand führt dann nach kurzer Zeit sicher zum Sturz. Während man also beim Pkw problemlos „voll auf die Bremse langen kann“, empfiehlt es sich bei Zweirädern, die Bremskraft im Normalfall dosiert einzusetzen.

Wie umfangreiche von unserem Büro durchgeführte Versuche belegen, führt die komplexe Regelaufgabe für den Zweiradfahrer unter normalen Umständen zu etwas längeren Anstiegszeiten bis zum Erreichen der Vollverzögerung. Dabei ist unter „Vollverzögerung“ in diesem Zusammenhang der maximale Verzögerungswert zu verstehen, den ein Zweiradfahrer mit gegebener Fahrerfahrung erreichen kann. Typischerweise beobachtet man, dass mit zunehmender Fahrerfahrung der Wert der maximal erreichbaren Verzögerung a ansteigt. Gleichzeitig wird dieser maximale Verzögerungswert von geübten Fahrern auch schneller erreicht. Um dieses Verhalten von Motorradfahrern realitätsnah erfassen zu können, wurde der sog. „Exponentialansatz“ zur mathematischen Beschreibung entwickelt. Er berücksichtigt die längere Schwellphase und die erreichbare Vollverzögerung in Abhängigkeit der Fahrerfahrung (vertiefend hierzu: Weber/Hugemann, Der Verkehrsunfall 28, 1990, S. 832–835).

Anders als bei Pkw sind also bei Bremsungen mit einem Motorrad starke Schwankungen der effektiven Bremsverzögerung möglich, die von der Fahrerfahrung des Auffassen und von der insgesamt für die Bremsung zur Verfügung stehenden Zeit abhängig sind. Liegt eine längere Spurzeichnung eines Motorrades vor, stammt sie in aller Regel vom Hinterrad. Bei nahezu allen Motorrädern erfolgt die Betätigung der Hinterradbremse über einen Fußhebel, der eine genaue Dosierung der Bremskraft nicht erlaubt. Deshalb wird insbesondere bei Notbremsungen zur Vermeidung einer Kollision im Regelfall das Hinterrad zum Blockieren gebracht. Ein Beispiel für eine Blockierspur eines Hinterrades direkt vor dem Unfall zeigt Abb. A-4. Nach Auffassung einiger Unfallanalytiker ist nicht zwingend davon auszugehen, dass zusätzlich noch die Vorderradbremse eingesetzt wird. Anhand der Spurzeichnung lässt sich der eindeutige Nachweis, dass die Vorderradbremse auch betätigt wurde, nur dann führen, wenn entweder eine Blockierspur des Vorderrades vorliegt oder aufgrund der Entlastung des Hinterrades bei stärkerer Betätigung der Vorderradbremse die Hinterradspurzeichnung wenig ausgeprägt ist.

In allen anderen Fällen bleibt immer ein Diskussionsspielraum zum Einsatz der Vorderradbremse. Allerdings haben umfangreiche Untersuchungen unseres Büros gezeigt, dass Motorradfahrer den gleichzeitigen Einsatz der Vorderradbremse ständig trainieren und auch in Stresssituationen in der Lage sind, die Vorderradbremse mehr oder weniger gezielt mit einzusetzen (Schmedding/Weber, Der Verkehrsunfall 28 (1990), S. 320–322). Jeder Motorradfahrer weiß, dass der alleinige Einsatz der Hinterradbremse nur eine geringe Verzögerung des Motorrades ermöglicht. Das damit erreichbare Verzögerungsniveau liegt mit etwa 3 m/s2 bei weniger als der Hälfte der mit einem Pkw erzielbaren Verzögerung und die Bremswege werden mehr als doppelt so lang, wie bei einem gleichzeitigen Einsatz der Vorderradbremse. Oftmals zeigt sich bei Unfällen mit Beteiligung von Motorrädern ein Spurenbild von beiden Rädern. Hieraus kann unmittelbar der Schluss gezogen werden, dass der Fahrer auch das Vorderrad zum Blockieren gebracht hat. Meist ist diese Blockierspur des Vorderrades allerdings nur wenige Meter lang und es schließt sich dann ein Sturzvorgang an, den der Fahrer zur Vermeidung der Kollision in Kauf nimmt.

Im normalen Fahrbetrieb ist der Fahrer bestrebt, sein Motorrad soweit wie möglich spurlos abzubremsen, um die Stabilität des Zweirades, die auf den Kreiselkräften der sich drehenden Räder beruht, nicht zu gefährden. Im Gegensatz zur Abbremsung eines Pkw, bei dem der Bremsvorgang völlig unproblematisch ist, stellt die Abbremsung eines Zweirades für den Fahrer eine komplizierte Regelaufgabe dar. In Gefahrensituationen ist der Fahrer unter Stress mit dieser Regelaufgabe oftmals überfordert, so dass zumindest das Hinterrad des Zweirades in der Regel überbremst wird. Der erste Teil der Spurzeichnung eine Zweirades vor einer Kollision stammt deshalb in der Regel vom Hinterrad des Fahrzeugs.

Der Stabilitätsverlust durch das Blockieren des Hinterrades kann vom Fahrer durch Gewichtsverlagerungen zumeist abgefangen werden. Ein blockierendes Vorderrad hingegen führt zwangsweise zum Sturz des Fahrzeugs, da die Kreiselkräfte des Hinterrades ohne zusätzliche Lenkkorrekturen am Vorderrad nicht ausreichen, das Motorrad zu stabilisieren. Der Fahrer ist also auch innerhalb der Unfallentwicklung bestrebt, ein Blockieren des Vorderrades in jedem Fall zu verhindern. In der letzten Phase vor der Kollision wird oftmals unter dem Situationsstress auch diese letzte mentale Hürde fallengelassen und das Vorderrad zum Blockieren gebracht. Es wird deshalb häufig ein Spurenbild beobachtet, bei dem die Blockierspur im ersten Bereich vom Hinterrad des Krades stammt und kurz vor der Kollision in eine doppelte Spurzeichnung übergeht. In dieser Phase können die beiden Blockierspuräste aufgrund einer Schrägstellung des Zweirades, die oftmals durch das Wegrutschen des Hinterrades verursacht wird, seitlich zueinander versetzt verlaufen.