Statistische Auswertung zum HWS-Trauma
Trotz der ständig verbesserten Fahrzeugsicherheit nehmen behauptete HWS-Verletzungen bei Bagatellkollisionen signifikant zu. Es stellt sich damit die Frage, inwieweit die Thematisierung von möglichen Verletzungsgefahren dazu beiträgt, dass Fahrzeuginsassen auch kleine Unfälle nicht mehr auf die leichte Schulter nehmen. So zeigt sich ein signifikanter Unterschied der HWS-Verletzungen zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz. Im deutschsprachigen Teil beklagen die Versicherungen, das Prämienaufkommen werde bald nicht mehr ausreichen, um diese Verletzungsfolgen auszugleichen. Bei frankophonen Schweizern tritt die Verletzung jedoch nur äußerst selten auf. Die Ursache dürfte kaum im verstärkten Rotweinkonsum, sondern darin zu suchen sein, dass die Frankophonen nur selten mit dem Begriff „coup du lapin“ (wörtlich: Karnickelschlag = Schleudertrauma) konfrontiert werden und damit nach Unfällen auch weniger eine solche Verletzung erwarten. Damit soll die Gefahr des HWS nicht bagatellisiert werden. Jedoch ist – auch in anderen Ländern – ein Zusammenhang zwischen Aufklärung zum Schleudertrauma und Verletzungsaufkommen unübersehbar. Eine vergleichende europäische Studie der CEA (Comité Européen des Assurances) hat ergeben, dass der Anteil am Gesamtaufwand der regulierten Personenschäden in den verschiedenen Ländern Europas stark schwankt (vgl. Abb. ): In Großbritannien liegt er bei 50 %, in Finnland und Frankreich unter 1 %.
In Deutschland ist das Schleudertrauma ein Massenphänomen. Die meisten Fälle verlaufen vergleichsweise harmlos. Nach ein bis zwei Wochen klingen die Beschwerden ab, es verbleiben keine Dauerfolgen. Circa 10 bis 20 % der Fälle zeigen einen langwierigen Verlauf. Nach Wochen oder sogar Monaten entwickelt sich häufig der Routinefall schleichend zu einem Großschaden, weil die zunächst in der Schadenanzeige harmlos klingende Verletzung immer noch erhebliche Beschwerden verursacht und ein Ende nicht abzusehen ist. Meist werden nur Weichteilverletzungen beklagt, deren Ausmaß und Auswirkungen auf den Geschädigten nicht objektivierbar sind.
Selbst von Seiten der Polizei wird die Empfehlung, Verletzungen vorzutäuschen, offen ausgesprochen. So gesteht Polizeioberrat Wilfried Schwab in einer Ausgabe der «Auto-Bild» 1994 den Lesern:
«Bei kleineren Blechschäden lege ich mich einfach neben mein Auto — und bin eben verletzt.»
Bei derartigen Fällen zahlt dann die Versicherung nicht nur 800 DM Schmerzensgeld, sondern auch Behandlungskosten und Verdienstausfall. Der tatsächliche Schaden liegt bei diesen Bagatellfällen deshalb schnell in fünfstelliger Größenordnung.
In den letzten Jahren sind zunehmend Fälle bekannt geworden, in denen Auffahrkollisionen verabredet und durchgeführt wurden, um HWS-Verletzungen vorzutäuschen. Die Verdienstmöglichkeiten sind bei dieser Betrugsart besonders hoch. Die folgende Vorgehensweise ist typisch: Kurze Zeit vor dem Unfall werden von mehreren Personen Unfallversicherungen mit hohen Tagegeldern abgeschlossen. Ein Bekannter fährt mit einem schrottreifen Fahrzeug oder auch einem Mietfahrzeug auf einen Pkw, in dem sich die versicherten Personen befinden. Sie täuschen über einen Zeitraum von mehreren Monaten oder gar Jahren eine Verletzung an der Halswirbelsäule vor. Die medizinischen Gutachter können die Verletzung zwar nicht objektivieren, die Kausalität des Unfalls für die geschilderten Beschwerden jedoch nicht ausschließen. Außer dem Schmerzensgeld kassieren die Täter noch für jeden unfallbedingten Krankheitstag steuerfrei mehrere hundert Mark aus diesen Unfallversicherungen.
Welche Tragweite das Problem der HWS-Verletzungen erreicht hat, lässt sich aus der Studie «Fahrzeugsicherheit ’90 (FS ’90)» ableiten. Es handelt sich dabei um die bisher größte Meldeaktion des VdS (Verband der Sachversicherer, vormals HUK-Verband). Dabei wurden nicht nur die üblichen Basisdaten, sondern die gesamten Versicherungsschadensakten mit allen Unterlagen zur Unfallursache, zum Unfallablauf, zu den Fahrzeugbeschädigungen und den Verletzungsfolgen zur Verfügung gestellt. Aus diesem Datenmaterial wurde eine repräsentative Stichprobe von 15.000 Fällen zur Auswertung herangezogen. Diese Fallauswahl entspricht nach Meinung der Autoren dieser Studie einem repräsentativen Querschnitt der Unfallverteilung der Bundesstatistik. Da sich 1990 rund 100.000 Pkw-Pkw-Unfälle mit Personenschaden in Deutschland ereigneten, ist davon auszugehen, dass die 15.000 Fälle in der Stichprobe immerhin rund 15 % aller Unfälle entsprechen.
In der FS ’90 wurden sämtliche Krankenakten der 15.000 Pkw-Pkw-Kollisionen ausgewertet: Bei 87 % aller untersuchten Pkw-Pkw Unfälle lagen als schwerste Verletzungsfolge der beteiligten Personen nur «leichte Verletzungen» vor. Dabei stellte sich weiterhin heraus, dass in rund 8 der Fälle bei mindestens einem der Beteiligten ein HWS-Trauma diagnostiziert wurde. Bei dem überwiegenden Teil der leichten Körperschäden handelt es sich also um diese Verletzungsart.
Geht man von 100.000 Verkehrsunfällen zwischen zwei Pkw aus, dann ergibt sich also bei mindestens 80.000 Fällen ein Halswirbelschleudertrauma. HWS-Verletzungen stellen demnach ein Massenproblem bei der Abwicklung von Verkehrsunfällen dar.
Die Studie zeigte weiterhin, dass die Zahl der HWS-Verletzungen seit Ende der 60er Jahre ständig ansteigt und sich mittlerweile nahezu verdoppelt hat. Hierzu wird in der FS ’90 u.a. auch angegeben, dass Probleme in der «subjektiven Verletzungsbeurteilung der Verletzten» (Selbstdiagnostik) lägen. Der Unfallbeteiligte mit Verletzungen habe einen Schmerzensgeldanspruch. Dies führe dazu, dass mangels objektiver Diagnosemethoden, die mit vertretbarem Aufwand für leichte HWS-Verletzungen angewandt werden könnten, solche Verletzungen heutzutage entschädigt werden müssen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich aufgetreten sind oder nicht.
In der Studie wurde weiterhin ausgewertet, auf welche Kollisionstypen sich HWS-Verletzungen verteilen.
Friont/Front = 11 %
Front/Seite = 28 %
Front/Heck = 61 %
Demnach ist davon auszugehen, dass der überwiegende Teil der HWS-Verletzungen auf einen Heckanprall zurückzuführen ist. Bei der Auswertung zeigte sich auch ein deutlicher Einfluss der Fahrzeugmasse. Insassen in leichten Pkw wurden häufiger an der Halswirbelsäule verletzt als die Insassen schwerer Pkw. Auch die Höhe der «Aufprallbeschleunigung» stellt nach den Ergebnissen der Studie eine wesentliche Einflussgröße dar. Ein kurzer harter Stoß führte wesentlich häufiger zu einer HWS-Verletzung als ein Stoß, bei dem das Fahrzeug durch erhebliche Beschädigungen im Heckbereich langsam beschleunigt wird.
In der Analyse wurden auch medizinische Fakten erfasst. Demnach wurden 60 % der Verunfallten zunächst in der Klinik behandelt, etwa ein Drittel durch den Hausarzt. Die meisten der Verletzten gaben ein oder auch zwei Beschwerdesymptome an wie Nackenschmerzen, Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule, Druckschmerzen usw. Über 70 % aller Verletzten suchten sofort einen Arzt auf. Immerhin sind aber rund 13 % erst nach 48 Stunden oder sogar noch später in ärztliche Behandlung gegangen. Der hohe volkswirtschaftliche Schaden ergibt sich aus der Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Nur in etwa 30 % der Fälle lag eine Arbeitsunfähigkeit von einer Woche oder weniger vor. Bei 55 % betrug die Arbeitsunfähigkeit zwischen einer und drei Wochen.
In der Studie erfolgte auch eine Bewertung des Beschädigungsgrades nach folgendem Schema: Der Beschädigungsgrad 1 entspricht «kleineren Kratzern, Beulen o.ä.». In dem Beschädigungsgrad 2 sind mäßige Beschädigungen an einem Fahrzeug berücksichtigt. Bezogen auf den Heckanprall werden hierunter leichte Eindrückungen des Heckblechs mit leichten Stauchungen der Langsträger als Maximum verstanden. Beschädigungsgrad 3 umfasst schwere Schäden (starke Stauchung bis hinteres Radhaus)) Grad 4 extreme (Heck bis Hinterachse zusammengeschoben) und Grad 5 totale (Fahrgastzelle stark verformt).
Nach der Auswertung FS ’90 war in drei Viertel aller Unfälle mit Personenschaden der Grad der Fahrzeugbeschädigungen von leichterer bis mäßiger Art. Bei über 90 % der Unfälle mit nur leichten Verformungen und rund 85 % der mit mäßigen Fahrzeugdeformationen hatte aber mindestens einer der Insassen eine Verletzung an der HWS.
Insgesamt ergab sich folgende Verteilung der Deformationen und der registrierten HWS-Traumen für alle Pkw-Pkw-Unfälle:
Beschädigungsgrad |
Verletzungsanteil |
||
1 |
gering |
21,3 |
91,4 |
2 |
mäßig |
42,5 |
84,8 |
3 |
schwer |
14,1 |
72,6 |
4 |
extrem |
1,8 |
42,2 |
5 |
total |
0,2 |
20,2 |
Als klare Tendenz ist erkennbar, dass mit steigendem Verformungsumfang die Zahl der diagnostizierten HWS-Verletzungen nicht zu, sondern abnimmt! Bei den in der Hauptsache verletzungsverursachenden Heckkollisionen waren nach der Studie sogar 90 % aller Fälle mit leichten und mäßigen Deformationen vertreten.
Leider wurde in FS ’90 nicht weiter aufgeschlüsselt, bei wie vielen der an leichten und mäßigen Kollisionen beteiligten Insassen Halswirbelsäulenverletzungen aufgetreten sind. Der sehr hohe Prozentsatz an HWS-Verletzungen insgesamt zeigt aber, dass eine Beschäftigung mit diesen Unfällen, bei denen nur geringfügige Beschädigungen auftreten, durchaus von Interesse ist. Deshalb beschränken sich die nachfolgend vorgetragenen Überlegungen auf Kollisionen, bei denen nur leichte bis mäßige Verformungen an den Pkw vorhanden sind.