Im Jahr 1993 wurde im Ingenieurbüro Schimmelpfennig und Becke eine Diplomarbeit zum HWS-Thema durchgeführt. Der Untersuchungsansatz war, dass realistische Messwerte nur durch Belastungsmessungen am menschlichen Körper zu erhalten sind. Deshalb wurden in den Versuchen Probanden eingesetzt. Bei insgesamt 24 Auffahrkollisionen wurde der Zeitverlauf der Beschleunigung im gestoßenen Fahrzeug aufgezeichnet. Dabei wurde der Einfluss verschiedener Kollisionsparameter auf den Beschleunigungsverlauf untersucht. Konkret wurden folgende Kollisionsparameter bei den 24 Versuchen verändert:
- Kollisionsgeschwindigkeit
- Struktureller Aufbau des Fahrzeughecks
- Überdeckungsgrad.
Insgesamt 14 Fahrzeugkollisionen wurden mit einer Versuchsperson auf dem Beifahrersitz des gestoßenen Messfahrzeugs durchgeführt. Der Versuchsaufbau ist prinzipiell mit dem in dem später in der Studie 97 verwendeten identisch. Neben der Fahrgastzellenbeschleunigung wurde bei diesen Auffahrkollisionen auch der Bewegungsablauf des Insassen messtechnisch erfasst. Die Aufzeichnung der Bewegungsdaten erfolgte mittels eines Video-Bildauswertesystems sowie durch zusätzlich aufgezeichnete biomechanische Beschleunigungsdaten.
Direkter Vergleich der Beschleunigungssignale im Autoskooter (links) und in der Fahrgastzelle eines Pkw (rechts).
Die beiden Abbildungen zeigen neben dem Signalverlauf einer Autoskooter-Kollision (oben) den Beschleunigungsverlauf mit den für Fahrzeugbeschleunigungen typischen überlagerten hochfrequenten Schwingungen (unten). Wegen der mechanischen Trägheit von Rumpf und Kopf des Insassen sind diese hochfrequenten Schwingungen für die Beurteilung der biomechanischen Belastung irrelevant. Das digital nachgefilterte Signal der Fahrgastzellenbeschleunigung sieht dem Beschleunigungsverlauf bei der Skooter-Kollision zum Verwechseln ähnlich.
Die Bewegungsanalyse der Insassenbewegung führte zu genauen Erkenntnissen über den Bewegungsablauf. Es zeigte sich, dass die Insassenbewegung beim Heckaufprall in vier immer wiederkehrende Bewegungsphasen unterteilt werden kann.
- Phase 1: Charakteristikum dieser Phase ist, dass sich lediglich die Fahrgastzelle und der Fahrzeugsitz auf den ruhenden Oberkörper des Insassen zubewegen. Eine Bewegung des Insassen findet somit in dieser Phase noch gar nicht statt. Der Beginn dieser Phase ist identisch mit dem Kollisionsbeginn, das heißt dem Zeitpunkt des ersten Kontakts zwischen den beiden Fahrzeugen.
- Phase 2: Die zweite Phase beginnt mit dem kraftschlüssigen Kontakt zwischen Oberkörper und Rückenlehne. Hierdurch nimmt dann auch der Oberkörper des Probanden an der allgemeinen Vorwärtsbewegung teil. Der Kopf hat sich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht bewegt. Durch die beginnende Vorwärtsbewegung des Oberkörpers setzt die Relativbewegung zwischen Kopf und Rumpf ein. Die Fahrgastzelle hat sich zu Beginn der zweiten Phase bereits etwa 6 cm vorwärtsbewegt hat, ohne dass der Insasse an dieser Bewegung teilgenommen hat. Die zweite Phase setzt etwa 80 ms nach der ersten Berührung der Fahrzeuge ein.
- Phase 3: Nachdem sich die Fahrgastzelle bereits 20 cm vorverlagert hat und eine Zeit von etwa 140 ms seit Kollisionsbeginn verstrichen ist, trifft die herannahende Kopfstütze auf den Hinterkopf des Probanden. Der Beginn dieser dritten Phase ist somit durch den Kontakt zwischen Kopfstütze und Kopf bestimmt. Von diesem Zeitpunkt an folgt auch der Kopf des Probanden der allgemeinen Vorwärtsbewegung, wodurch bei korrekt eingestellter Kopfstütze gewährleistet ist, dass sich der Relativwinkel zwischen Oberkörper und Kopf des Probanden nach Beginn der dritten Kollisionsphase nicht weiter vergrößern kann.
- Phase 4: An die dreiphasige Primärbewegung schließt sich die vierte Bewegungsphase an. In dieser vierten Phase findet die energiearme Sekundärbewegung des Insassen in Form einer Vorverlagerung statt. Bedingt durch die Tatsache, dass der Proband der Fahrgastzellenbewegung mit zeitlicher Verzögerung folgt, erreicht auch er seine «Stoßausgangsgeschwindigkeit» erst mit zeitlichem Verzug, verlagert sich infolgedessen relativ zur Fahrgastzelle nach vorn und wird schließlich vom Gurt aufgefangen. Im Gegensatz zur Primärbewegung (Phase 1 bis 3) ist diese Sekundärbewegung jedoch sehr energiearm und daher nicht geeignet, Verletzungen hervorzurufen.
Die Abbildung zeigt maßstäblich die Vorwärtsbewegung des Fahrzeugs (von links nach rechts) und die Insassenbewegung
In der Studie 97 wurde der Bewegungsablauf übrigens weiter in insgesamt sechs Phasen aufgeschlüsselt.
Die wichtigste Erkenntnis der Studie 93 war, dass die kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung den prägnantesten technischen Kollisionsparameter zur Beschreibung der biomechanischen Insassenbelastung darstellt. Er hat sich mittlerweile auch in der internationalen Literatur durchgesetzt. Die Geschwindigkeitsänderung ist dabei die Geschwindigkeitsdifferenz eines Fahrzeuges unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Anstoß. Sie ist allerdings nicht mit der Relativ- bzw. Differenzgeschwindigkeit zweier Fahrzeuge vor dem Kollisionsereignis zu verwechseln. Es ist davon auszugehen, dass mit einer Zunahme der Beanspruchung der Fahrzeuge auch die Höhe der biomechanischen Insassenbelastung zunimmt. Das in diesem Zusammenhang bedeutendste Diagramm ist in der Studie 97 vorgestellt. Es beinhaltet die im Rahmen der Studie93 und Studie97 gefundenen Belastungswerte und definiert den Harmlosigkeitsbereich.
Quelle dieser Seite: Meyer, Hugemann, Weber: Zur Belastung der Halswirbelsäule durch Auffahrkollisionen. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 32 (1994), S. 15 bis 21 und S. 187 bis 199.