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Studie 97

Zusammenfassung der Studie

Im Rahmen einer interdisziplinären (technisch-medizinischen) Studie des Ingenieurbüros Schimmelpfennig + Becke und der Akademie für Manuelle Medizin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wurden Pkw-Auffahrkollisionen mit resultierenden Geschwindigkeitsänderungen zwischen 10 und 15 km/h im Hinblick auf Verletzungen der Halswirbelsäule untersucht. Dabei wurde der Bewegungsablauf der Insassen erfasst und es wurden Analogien zwischen Pkw-Auffahrkollisionen und Autoskooter-Anstößen nachgewiesen.

An den 17 Pkw- und 3 Autoskooter-Kollisionen nahmen 14 männliche Freiwillige im Alter von 28 bis 47 Jahren und 5 weibliche Freiwillige im Alter von 26 bis 37 Jahren teil. Vor und nach jedem Crash wurden die Freiwilligen klinisch und kernspintomographisch untersucht. Zusätzlich wurde eine Ultraschall-Untersuchung der HWS-Beweglichkeit durchgeführt. Während des Crash-Tests waren alle Versuchspersonen akustisch und visuell von der Außenwelt abgeschirmt, um eine Antizipation des Anstoßereignisses zu unterbinden. Der Tonus der Halsmuskulatur wurde durch Elektromyographie-Oberflächen-Elektroden in verschiedenen Bereichen überwacht. Der Bewegungsablauf und die biomechanischen Beschleunigungssignale wurden computerunterstützt aufgezeichnet. In allen Versuchsfahrzeugen war zusätzlich ein Unfalldatenspeicher installiert.

Es wurden Geschwindigkeitsänderungen von 8,7 bis 14,2 km/h bei den Pkw und 8,3 bis 10,6 km/h bei den Autoskootern realisiert. Die mittleren Beschleunigungen lagen zwischen 2,1 und 3,6 g bei den Pkw und 1,8 bis 2,6 g bei den Autoskootern. Weder bei den orthopädischen Untersuchungen, der computerunterstützten Überprüfung der Beweglichkeit, noch den kernspintomographischen Untersuchungen wurden Verletzungen der Freiwilligen festgestellt. Nur ein männlicher Proband gab nach den Versuchen über einen längeren Zeitraum von 10 Wochen eine Einschränkung der Linksrotation an. Keiner der Probanden berichtete über gravierende Beschwerden. Die kollisionsdynamischen Ausgangsparameter zur Ermittlung der biomechanischen Insassenbelastung bei Autoskooter- und Pkw-Kollisionen lagen bei leichten bis mäßigen Verformungen der Pkw in gleicher Größenordnung und zeigten einen weitgehend identischen Verlauf.

Allgemein konnte durch die Versuche bestätigt werden, dass die sich bei Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 10 km/h ergebenden biomechanischen Insassenbelastungen problemlos ohne Verletzungsfolge von der Halswirbelsäule toleriert werden. Für die Praxis der technischen Analyse sind die bei den Versuchen erzeugten Beschädigungsbilder der Fahrzeuge eine wesentliche Arbeitsgrundlage.

Versuchsdesign

Insgesamt erklärten sich 19 Testpersonen nach einer ausführlichen Aufklärung über die Details der Studie (incl. eventueller Risiken) bereit, freiwillig teilzunehmen. Es standen 14 Männer im Alter von 28 bis 47 und 5 Frauen im Alter von 26 und 37 Jahren für die 17 Pkw- und 3 Autoskooter-Kollisionen zur Verfügung[1]. Oberstes Gebot bei den Versuchen war die Sicherheit der Probanden. Deshalb wurden alle Kollisionsgeschwindigkeiten zuvor so berechnet, dass keine höheren Belastungswerte als bei Autoskooter-Anstößen auftreten konnten.

Insgesamt standen 19 Versuchsfahrzeuge (sechs VW Golf II, fünf Opel Kadett E Caravan, fünf Opel Rekord E 2, und jeweils ein DB 124, DB 124 T-Modell und Opel Kadett E Stufenheck) zur Verfügung. Bei der Auswahl der Versuchsfahrzeuge wurde darauf geachtet, dass das Kollisionsverhalten verschiedener Fahrzeugkonzepte (Stufenheck, Fließheck und Kombi) Berücksichtigung fand. Der strukturversteifende Einfluss einer Anhängerkupplung wurde mit zwei identischen Versuchsfahrzeugen vom Typ Opel Rekord E 2 analysiert.

Angesichts der Tatsache, dass im alltäglichen Straßenverkehr bei Heckkollisionen das auffahrende Fahrzeug fast immer „gebremst“ auffährt, wurde ein wesentlicher Teil der auffahrenden Versuchsfahrzeuge während des jeweiligen Crashs im vorderen Bereich abgesenkt.

Folgende Ziele der technisch-medizinischen Studie wurden formuliert:

  • Erzeugung praxistauglicher Beschädigungsbilder als Grundlage der retrospektiven Unfallanalyse mit Angabe der technischen Kollisionsparameter (Geschwindigkeitsänderung, EES-Wert, Stoßdauer, mittlere Beschleunigung).
  • Vergleich der technischen Kollisionsparameter einer Autoskooter-Kollision mit denen realer Pkw-Auffahrkollisionen.
  • Ermittlung des Einflusses der Stoßdauer und des Bremszustandes des gestoßenen Pkw auf die Insassenbelastung.
  • Detaillierte Bewegungsanalyse der Freiwilligen im Hinblick auf neue Erkenntnisse zum Verletzungsmechanismus an der Halswirbelsäule.

Ablauf der Versuche

Begonnen wurde die Testreihe mit einer medizinischen Voruntersuchung (1 bis 6 Tage vor dem Crash). Diese umfasste eine orthopädisch-manualmedizinische Untersuchung der HWS (incl. einer Überprüfung der groben Kraft, der Sensibilität und der Reflexe der oberen Extremitäten) und eine computergesteuerte Ultraschall-Untersuchung der HWS-Beweglichkeit mit dem CMS-50-Gerät der Firma Zebris. Neben der Ante- und Retroflexion, Rotation in Neutralstellung des Kopfes und Seitenneigung wurde auch die Rotation in maximaler Deflexion und maximaler Retroflexion gemessen. Zusätzlich wurde eine kernspintomographische Untersuchung der HWS mit diversen Sequenzen unter Zugabe von Kontrastmittel durchgeführt. Im Anschluss an diese Untersuchungen fanden auf der Crash-Anlage des Ingenieurbüros Schimmelpfennig+Becke die Versuche statt.

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Der komplette Versuchsaufbau ist im oberen Bild skizziert. Die Kollisionsgeschwindigkeit des auffahrenden Fahrzeugs wurde mit Hilfe einer Sportlichtschranke gemessen. In beiden Fahrzeugen war zum Anstoßzeitpunkt ein Unfalldatenspeicher (UDS der Firma Mannesmann Kienzle) installiert. Mit Hilfe der hauseigenen Meßtechnik des Ingenieurbüros Schimmelpfennig+Becke wurden im angestoßenen Fahrzeug die Längsbeschleunigung (zusätzlich zum UDS) und Vertikalbeschleunigung der Fahrgastzelle erfaßt. Als biomechanische Beschleunigungssignale wurden die Kopf- und Brustbeschleunigung aufgezeichnet. Zusätzlich wurde die neurologische Aktivität verschiedener Nackenmuskeln mit Hilfe von EMG (Elektromyographie)-Oberflächenelektroden erfaßt und parallel zu den Beschleunigungssignalen eingelesen.

Die Bewegungen der Probanden vor, während und nach der Kollision wurden mittels einer Hochgeschwindigkeitskamera (60 bis 100 Bilder/Sekunde) und einer Videokamera (25 Bilder/Sekunde) dokumentiert.

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Beispiel für Beschädigungsbilder innerhalb der Versuchsreihe:


Die Aufprallgeschwindigkeit des Opel Kadett auf den Rekord lag bei v1=25km/h, die hieraus resultierende kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung im heckseitig angestoßenen Rekord betrug:  delta v2=11 km/h

Das Bild unten zeigt einen typischen Beschleunigungsverlauf im gestoßenen Pkw während der Crashs. veranschaulicht die hierdurch auftretende Vereinfachung. Die Fläche unter der Kurve des Beschleunigungssignals entspricht dabei der Fläche des durch die mittlere Beschleunigung und die Stoßdauer aufgespannten Rechtecks. Die mittlere Beschleunigung eignet sich also als zusätzliche Kenngröße, wenn Stöße mit unterschiedlichen Kollisionsdauern miteinander verglichen werden sollen.

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Medizinische Untersuchung

Die Auswertung der medizinischen Voruntersuchung ergab, daß acht der 19 Probanden vor den Crash-Tests schon einmal HWS-Beschwerden hatten. In der kernspintomographischen Voruntersuchung wiesen sechs Probanden degenerative Veränderungen (bspw. Bandscheibenprotusion) auf. Zum Zeitpunkt des Versuchs waren alle Freiwilligen beschwerdefrei.

Die Auswertung der ersten Nachuntersuchung (1 Tag nach dem Crash) ergab, daß vier männliche Probanden und eine weibliche Probandin Beschwerden schilderten. Diese waren kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen zwischen 11,4 und 14,2 km/h ausgesetzt. Die klinischen Untersuchungen zeigten keine Verletzungsfolgen und die kernspintomographischen Befunde wiesen keinerlei Veränderungen zu den Voruntersuchungen auf.

Die abschließende Untersuchung (4 bis 5 Wochen nach dem Crash) ergab, daß nur noch ein Proband von den zuvor fünf Probanden Beschwerden angab. Diese bestanden aus einer leichten Einschränkung der Linksrotation insbesondere in Flexion von 10°. Die Beschwerden der anderen drei männlichen Probanden und der Probandin waren nach 1 bis 7 Tagen vollständig abgeklungen. Die kernspintomographischen Untersuchungen wiesen auch zu diesem Untersuchungszeitpunkt keinerlei Veränderungen zu den Voruntersuchungen auf. Verletzungsfolgen fanden sich auch bei dieser letzten Untersuchung nicht. Zu keiner Zeit war einer der Probanden trotz subjektiv empfundener Beschwerden an der weiteren Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit gehindert.

Technisch-biomechanische Schlussfolgerungen

Um die Ergebnisse der in dieser Arbeit beschriebenen Studie hinsichtlich ihrer technischen Kollisionsparameter besser einordnen zukönnen, zeigt die folgende Abbildung zusammengefasst die unter kollisionsmechanischen Gesichtspunkten aufbereiteten Ergebnisse aller im Jahre 1993 und im Rahmen dieser Arbeit beschriebenen Auffahrkollisionen. Die Ergebnisse der Studie 93 sind mit hellen Symbolen und die der 97-er Studie mit dunklen Symbolen illustriert. Auf der Abszisse ist die massenbewertete Aufprallgeschwindigkeit in km/h aufgetragen. Durch die Umrechnung der Aufprallgeschwindigkeit wird der Einfluss des Massenverhältnisses kompensiert.

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Die Grafik enthält somit nicht mehr den aus unterschiedlichen Fahrzeuggewichten resultierenden Einfluss und ist deshalb besser geeignet, Anstoßvorgänge zu vergleichen. Die Geschwindigkeitsänderung im gestoßenen Fahrzeug hängt bei gegebener massenbewerteter Aufprallgeschwindigkeit nur von der Verformungscharakteristik bzw. ihrer mathematischen Beschreibung durch die Stoßziffer k bzw. die Trennungsgeschwindigkeit deltav‘ ab. Bei Kollisionspartnern gleichen Gewichts entspricht die massenbewertete Aufprallgeschwindigkeit exakt der Anstoßgeschwindigkeit des auffahrenden Fahrzeugs.

Auf der Ordinate ist in diesem Bild die gemessene Geschwindigkeitsänderung aufgetragen. Jedes schwarze Symbol innerhalb der Fläche beschreibt eine Pkw-Auffahrkollision der Studie 97.m unteren Teil des Bildes hellgrau umrandete Bereich beinhaltet bis zu einer Geschwindigkeitsänderung von 10 km/h nicht nur den größeren Anteil der von uns durchgeführten Versuche, sondern auch die Ergebnisse vieler internationaler Arbeiten. Als Teilergebnis unserer Studie kann daher formuliert werden, dass durch eine Geschwindigkeitsänderung von bis zu 10 km/h Verletzungen an der Halswirbelsäule eines Insassen im gestoßenen Fahrzeug sehr unwahrscheinlich sind.

Aus den Erfahrungen mit Skooter-Anlagen lassen sich noch weitergehende Erkenntnisse ableiten. Da bisher keine statistisch relevanten Fälle von Verletzungen der Halswirbelsäule nach Skooter-Anstößen bekannt sind, kann der Rückschluss gezogen werden, dass Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 10 km/h unabhängig von Anstoßrichtung, Sitzkonfiguration und Kopfstützeneinstellungen unkritisch sind.

Bei Anstoßvorgängen in dem in der Grafik dunkel umrandeten Bereich ist nach dem bisherigen Kenntnisstand eine interdisziplinäre (technisch-medizinische) Beurteilung der Verletzungskausalität erforderlich. Hier sind dann neben den technischen Kollisionsparametern auch individuelle Einflussgrößen im Rahmen der interdisziplinären Begutachtung zu berücksichtigen.

Zusammenfassend kann aus den Studien abgeleitet werden, dass kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 10 km/h in den heckseitig angestoßenen Fahrzeugen sicher als harmlos bezeichnet werden können. Aufgrund der Ergebnisse der 97-er Studie ist sogar von einem Harmlosigkeitsbereich bis zu 11 km/h auszugehen. Die Vergleichbarkeit der Versuche mit den täglich millionenfach stattfindenden Autoskooter-Kollisionen zeigt, dass Verletzungen in diesem Belastungsniveau bei Fahrzeugkollisionen als Unfallfolge sehr unwahrscheinlich sind.

Bei Geschwindigkeitsänderungen zwischen 10 und 15 km/h ist eine genaue Betrachtung der Gesamtumstände erforderlich. In einer interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen einem medizinischen und einem technischen Sachverständigen sollte hier eine sorgfältige Analyse der auftretenden Belastung, des Bewegungsablaufs bei Einbeziehung der Körpergröße und der Sitzkonstruktion erfolgen. Hierauf aufbauend kann dann der medizinische Sachverständige das geschilderte Beschädigungsbild in Verbindung mit den vom Techniker gelieferten Belastungswerten auswerten. Durch ein derartiges interdisziplinäres Belastungsgutachten lässt sich dann bei Berücksichtigung der in dem jeweiligen Verfahren geltenden Beweislastverteilungen die Frage klären, ob und in welchem Umfang unfallbedingte Verletzungen vorliegen können.

Oberhalb einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung von 15 km/h lässt sich nach dem momentanen Kenntnisstand nicht ausschließen, dass Verletzungen auftreten können. Dies gilt insbesondere dann, wenn in dem Fahrzeug ungünstige Belastungsbedingungen vorliegen. Hierzu zählen falsch eingestellte Kopfstützen, unzureichende Sitzkonstruktionen und eine ungünstige Körperhaltung zum Anstoßzeitpunkt. Wie auch die statistische Auswertung zeigt, ist aber auch bei Geschwindigkeitsänderungen, die weit ober-halb dieser Grenze von 15 km/h liegen, nicht zwingend von Verletzungen der Halswirbelsäule auszugehen. Liegt der Körper eng an der Rückenlehne und der Kopfstütze eines gut konstruierten Sitzes an, führen auch wesentlich höhere Geschwindigkeitsänderungen nicht zu kritischen Belastungswerten der Insassen.

Die Studie wurde von der Europäischen Wirbelsäulengesellschaft (European Spine Society) mit dem bedeutenden AcroMed-Preis für Wirbelsäulenforschung honoriert20. Dies zeigt die Bedeutung, die dieser interdisziplinären Studie im Bereich der Wirbelsäulenforschung zugeschrieben wird.

Quelle dieser Seite: Meyer, St.; Weber, M. Kalthoff, W.: Schilgen, M.; Castro, W.H.M.: Freiwilligen-Versuche zur Belastung der Halswirbelsäule durch Pkw-Heck-Anstöße. Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik (1999)