Bei einem Unfall versteht man hierunter die gesamte Zeit, die zwischen dem realisieren eines Gefahrenobjektes bis zum Wirksamwerden der Abwehrhandlung verstreicht. Zur Zeit orientiert sich die zu zubilligende Reaktionsdauer wesentlich an den Empfehlungen zu der Reaktionsdauer des 20. Verkehrsgerichtstages in Goslar. Die untenstehende Grafik zeigt diese Empfehlungen demnach setzt sich die gesamte Reaktionsdauer im Normalfall aus der Informationsverarbeitungsdauer, der Umsetzdauer, der Anlegedauer und Spurzeichnungsschwelldauer zusammen. Bei der Informationsbearbeitungsdauer handelt es sich um die physiologisch Reaktionsdauer, die erforderlich ist, um von der Wahrnehmung über das Erkennen der Gefahr zu einer Entscheidung zu kommen. Die Umsetzdauer ist diejenige Zeitspanne, die erforderlich ist, um den Fuß vom Gaspedal auf das Bremspedal umzusetzen. Die Anlegedauer ist diejenige Zeit, die benötigt wird, bis die Bremsbacken an den Scheiben anliegen und ist bei modernen Bremsanlagen vernachlässigbar gering. Die Spurzeichnungsschwelldauer ist diejenige Zeitspanne, die zwischen dem ersten leichten Verzögerungsanstieg und der Vollverzögerung und damit der Spurzeichnung des Fahrzeugs verstreicht. Die gesamte Reaktionsdauer setzt sich additiv aus den Einzelzeitdauern der erforderlichen Einzelschritte zusammen. Dabei lassen sich für sämtliche Zeitspannen keine festen Werte angeben, da die Messwerte statistisch in einem Bereich streuen. Die statistische Verteilung der Reaktionsdauern wird bei der Argumentation oft unterschlagen, indem nur ein fester Wert für die Reaktionszeit angegeben wird.
Die Versuchsanordnung, mit der diese Werte für die Bremsreaktionsdauer – ohne Spurzeichnungsschwelldauer – ermittelt wurden, ist in der untenstehenden Zeichnung dargestellt. Das Wissen um den Aufbau der Versuchsanordnung ist für die juristische Wertung insofern interessant, als dass die mit dieser Anordnung ermittelten Werte zunächst einmal nur auf vergleichbare (Unfall-) Situationen bezogen werden können.
Die Ermittlung der Reaktionszeit erfolgte mit der Zeichnung in der oben dargestellten Anordnung. Den Probanden wurde die Aufgabe gestellt, einem vor ihnen befindlichen Fahrzeug auf wenig befahrener Strecke zu folgen und die Bremseinrichtung zu betätigen, sobald sie das Aufleuchten der Bremslichter des vor ihnen fahrenden Fahrzeugs (in der Darstellung links eingezeichnet) bemerken. Die Betätigung der Bremseinrichtung durch den Probanden wurde dann über eine mobile Funkstrecke an das vorausfahrende Fahrzeug gemeldet. Eine im vorausfahrenden Fahrzeug befindliche Auswerteeinrichtung stellte dann die Zeitspanne fest, die zwischen dem Aufleuchten der Bremslichter des vorausfahrenden Fahrzeugs und dem Betätigen der Bremseinrichtung durch den nachfolgenden Fahrer verstrich. Die gemessene Zeitspanne stellte also die Summe aus Informationsverarbeitungs- und Umsetzdauer dar. Zu dieser Zeitspanne ist bei der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen noch die Spurzeichnungsschwelldauer hinzuzurechnen, deren Wert typischerweise etwa 0,2 s beträgt.
Das Diagramm unterhalb der zeichnerischen Darstellung zeigt die statistische Verteilung der im Versuch bestimmten Reaktionsdauern. Man erkennt, dass die Summe aus Reaktionsgrundzeit und Umsetzzeit etwa bei 0,6 s ihr Maximum hat und dass ein weiteres Maximum in etwa bei einer Reaktionszeit von 1 s existiert. Das zweite Maximum kommt dadurch zustande, dass die Probanden ihren Blick nicht ständig auf die Rücklichter des Vorderwagens geheftet hatten und deshalb für die Reaktion auf die vor ihnen befindlichen Bremsleuchten zum Teil noch eine Blickzuwendung erforderlich war, die die Reaktionsdauer eindeutig deutlich verlängerte.
Mit dem üblichen Wert von etwa 1 s Reaktionsdauer bezieht man sich auf das 98 %-Percentil der Verteilung, d.h., 9 aller Probanden haben innerhalb dieser Zeitspanne die gestellte Aufgabe bewältigt, indem sie das Bremspedal betätigten. Unter diesen Umständen ergibt sich inkl. Spurzeichnungsschwelldauer eine Reaktionszeit von etwa 1,0 s.
Diese Reaktionszeit wurde lediglich von der Probanden überschritten. Auf der anderen Seite kann man jedoch für die Reaktionszeit auch Werte im Bereich von 0,6 s annehmen, die von gut aller Probanden unterschritten wurden. Der wahrscheinlichste Wert der Reaktionsdauer befindet sich im Bereich zwischen 0,8 und 0,85 s.
Eine kritische Beschäftigung mit der Versuchsanordnung zeigt aber auch, dass die Ermittlung der Reaktionszeit sozusagen unter „Laborbedingungen“ erfolgte. Die Probanden im hinteren Fahrzeug hatten auf eine denkbar simple Reaktionsaufforderung, nämlich das Aufleuchten zweier roter Lichter in ihrem Blickbereich mit einer einzig möglichen Reaktion zu reagieren. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die gemessenen Reaktionszeiten der Probanden relativ dicht um das Maximum bei 0,6 s gruppieren.
Im tatsächlichen Straßenverkehr sind jedoch die Reaktionsaufforderungen in vielen Fällen bei weitem nicht derart eindeutig und leicht zu erkennen wie im Versuchsaufbau, so dass zu bezweifeln ist, dass eine Reaktionszeit von 0,6 s incl. Spurzeichnungsschwelldauer beispielsweise bei der Reaktion auf ein in weiter Entfernung auf die vorfahrtberechtigte Straße einbiegendes Fahrzeug noch realistisch unterstellt werden kann.